2011 hat mich mein Vater eingeladen, mit ihm eine Norwegenreise mit den Hurtigruten zu machen. Die für mich ungewohnte Atmosphäre an Bord des Schiffes hat einen ungeheuren Mitteilsdrang ausgelöst. Die folgenden Mails an FreundInnen sind das Resultat.
27. Mai 2011
Liebe Mitmenschen,
Hurtig – der Name gilt sicherlich für die Schiffe, für die Mitreisenden in der Regel nicht. Ich senke schon ein wenig den Altersdurchschnitt, mein Vater dürfte sich im guten Durchschnittsalter der Passagiere befinden.
Heute erster Landausflug, die Reiseleiterin sprach sehr laut. Das löste bei mir den Wunsch aus, mich für den Rest der Zeit lieber in einer Panoramasuite mit gut gefüllten Bar und fluppendem Internet einschließen zu wollen.
Aber Norwegen ist schon sehr schön.
Wirklich nicht-hurtig ist allerdings auch die Internetlage auf diesem Schiff. Nur zwei von drei Computern funktionieren. Und die Schnelligkeit der Verbindung könnte nur von der Schneckenpost untertroffen werden. Wie bei eben erwähnter fällt die Connection auch gerne mal aus (im Fjord, zwischen den Bergen).
Meinen gewohnten Email-Account kriege ich mit diesem antiken Browser nicht aufgerufen, Facebook zickt auch und SMS ist teuer. Hilfe!!!
Bis bald. Ich schaue mal, ob ich in der Bar noch vorm Essen ein paar Bierpfützen aufschlabbern kann. Und die nette Barkeeperin von gestern Abend wieder da ist…
Grüße aus Trollland
29. Mai 2011
Liebe Zuhausgebliebene,
so langsam gewöhne ich mich an diese Reise und das Schiff. Gerade sind in Bodö einige Mütter mit kleinen Kindern zur Kaffeefahrt auf die Lofoten eingestiegen und dieser Kinderlärm nervt nicht mal.
Dagegen sind die Keyboardspielerin und der Gitarrist, die jeden Abend die Bar bespielen, etwas anstrengend. Schlechte Versionen von Que sera sera und Money for nothing waren noch nie mein Ding. Allerdings mögens die Mitreisenden wohl auch nicht sonderlich. Die armen Musiker spielen nach 23.00 – wenn es keinen Umsonst-nach-dem-Essen-Kaffee mehr gibt – in der Regel vor drei bis fünf Leuten. Und da ist die reizende Barkeeperin noch gar nicht eingerechnet.
Man geht hier früh ins Bett außer ein paar NachtschwärmerInnen. Letzte Nacht ist es gar nicht mehr dunkel geworden. Kurz nach Mitternacht fuhren wir direkt kurz vorm Anlegen an einer ärmenden Kirmes vorbei. Sehr merkwürdig.
Fast alle Leute an Board laufen mit roten Hurtigrutenthermobechern herum, weil sie darin für eine bestimmt Summe Kronen unendlich viel Kaffee oder Tee transportieren und dann auch noch trinken können. Hüstel, selbst ich habe eine Teeflatrate.
Wusstet Ihr eigentlich, dass Klausi Beimer einen Nebenjob hier an Bord als Kellner hat?
Morgen geht es weiter nach Tromsö, wo ich mit einer älteren Essensbekanntschaft schoppen werde und danach wird sich herausstellen, ob die Erde nicht doch eine Scheibe ist.
Eventuell melde ich mich wieder.
Viele Grüße von möglichen Ende der Welt
31. Mai 2013
Liebe SüdländerInnen,
die Erde scheint doch keine Scheibe zu sein. Wir fahren immer noch weiter.
Bei uns sind es erstaunliche sonnige 13 Grad am Nordkapp. Nichts gegen Eure 30, aber immerhin. Wir hätten fast schon den Badeanzug ausgepackt und uns mit den Schweinswalen und Orcas ins Getümmel gestürzt.
Dummerweise sind hier ziemlich viele Touris, so dass ich gar keine tollen Fotos mehr von mir und meinem Vater vor der Weltkugel machen konnte ohne gleich 100 andere Menschen mit aufzunehmen.
Die Realitäten und Tage und Naechte verschwimmen so langsam bei so ausdauerndem Licht. Gestern Mittag dachte ich, Annette Schavan stände hinter mir in der Puddingschlange. Dabei waren es mehrere Damen, die aussahen wie Annette Schavan. Ich sehe auch ständig meinen Vater, weil es hier so viele kleine grauhaarige Männer gibt.
Beim Drink nach dem Abendessen haben wir (zwei Düsseldorfer – sitzen nun mal an unserem Tisch – und eine Schwäbin – sitzt auch an unserem Tisch) gedacht, dass es gar nicht sein kann, dass jeder dieser Berge, die wir Stunde um Stunde, Minute um Minute, gar jede Sekunde vor Augen haben, einen eigenen Namen hat. Hat er aber. Sagt nicht die reizende Barkeeperin, sondern ein etwas muffeliger Kollege.
Die reizenden Barkeeperin ist gar keine Norwegerin, sondern Isländerin und fühlt sich eher für Vulkane zuständig als für Millionen von schnee-, halbschnee- und nicht-schneebedeckten Bergen.
Dringend neu geschrieben werden muss die Geschichte der Ohropax. Sie sind nämlich entgegen aller anderer Annahmen von Insassen von Touri-Bussen erfunden worden, in den sich die Lautstaerke nicht regulieren lässt und deren Reiseleiterin viel zu laut ins Mikro spricht. Aus Notwehr sozusagen.
Und das Kielholen wird spätestens morgen sein Revival erleben, wenn dieses unsägliche Musikduo noch einmal auftritt und Rivers of Babylon intoniert. Sie haben noch drei weitere Wochen einen Vertrag für vier Stunden am Abend – sagt die reizende Barkeeperin. Ob sie ihn erfüllen können, hängt an der seidenen Girarrensaite.
Wusstet Ihr eigentlich, dass Skol „Schale“ heisst? Da anno Tuck alle bei Dorffesten aus einer Schale soffen, war das eigentlich eine unhöfliche Aufforderung, den Drink ‚rüberzugeben. Sozusagen die vormoderne Version des Sangriaeimers am Ballermann.
Könnte bitte mal eine/r recherchieren, wie es sich mit dem Mond verhält, wenn die Sonne nicht untergeht? Ist er irgendwo, wo wir ihn nicht sehen oder macht er sich dünne? Kann hier nicht nachschauen. Googlesuche wuerde gefühlte 24 Stunden in Anspruch nehmen. Die beste Antwort wird prämiert!
Macht es gut FreundInnen der dunklen Nacht.
2. Juni 2011
Liebe schneelosen Menschen,
gestern Nacht musste ich doch glatt aufhören, an Euch zu schreiben, weil ab 0:30 die Sonne dermaßen auf den Bildschirm knallte, dass ich nichts mehr sehen konnte. Heute dagegen hat’s sogar schon wieder Bäume.
Doris, die ältere Dame aus Schwaben, hat inzwischen endgültig meinen Vater und mich adoptiert. Sie will nur mit uns durch die Städtchen spazieren. Das ist manchmal etwas anstrengend, da sie ein schwieriges Deutsch spricht. Wenn ich ihr sage, dass ich sie gerade nicht verstanden habe, meint sie etwas wie „schoschlimmischeschdochganisch“. Die Sachsen an Bord kann ich dagegen ganz gut verstehen.
Die Düsseldorfer und ich bilden am Ende der Welt ein ziemlich eingespieltes entspanntes Team. In Kirkenes sind wir zusammen zum Grenzlandmuseum außerhalb der City gewandert. Von dort sind wir viel zu spät wieder aufgebrochen und haben auch noch (et hätt ja noch immer jot jejange ) den Rat der Museumsdame verschmäht, doch besser den Bus zurück zum Schiff zu nehmen. Völlig ausgelaugt, mit wunden Füßen, schwerem Atem und vor allem hochrotem Kopf sind wir aufs Schiff gekrochen. Mein Vater hatte da natürlich schon die Besatzung bestochen, auf uns zu warten.
In Kirkenes ist fast die Hälfte der vertrauten Personen abgereist: eine ganz entzückende Kölnerin, skurile Engländer, ein Haufen Kanadier und eine Reisegruppe unter der Obhut einer gewissen Sabine Heuser, die täglich Infotreffen im Konferenzraum abhielt. Dafür  haben wir jetzt ein paar Rheinländer, skurile Engländer und einen Haufen Kanadier dazu gekriegt, Sabine Heuser heißt jetzt Monika. Das Durschnittsalter ist eher noch gestiegen.
Die Engländer, die abends nach dem Essen ihren Tee in der Bar nehmen, sehen allesamt aus wie Komparsen bei „Inspektor Barnaby“.
Einer meiner beiden norwegischen Knipskumpel scheint auch von Bord zu sein. Auf den anderen ist allerdings Verlass. Etwa eine viertel Stunde vor jedem Hafen treffen wir uns mit unseren Kameras vorne auf Deck fünf. Er scheint gleichzeitig Bernd und Hilla Becher auf norwegische Art zu verkörpern. Irgendein Wesen muss ihm eingeflüstert haben, dass der Sinn des Lebens darin besteht, sämtliche (und damit meine ich ALLE!) norwegischen Leuchtürme und -feuer zu fotografieren.
Ich dagegen habe ja inzwischen eingesehen, dass meine Bestimmung doch nicht darin liegt, einen norwegischen Berg nach dem anderen aufzunehmen, geschweige denn jedes vorbeifahrende Schiff.
Was war das denn eigentlich gestern am 1. Juni um ca. 23:26 in der Naehe des Nordkapps? Wir hatten eine partielle Sonnenfinsternis. Wo kam der Mond her?
An dieser Stelle vielen Dank fuer die zahlreichen Antworten auf die Mondfrage. Ich werte die Antworten noch aus. Doris glaubt mir allerdings immer noch kein Wort und ich ihr einfach auch nicht mehr.
Nun muss ich so langsam Schluss machen, weil wir gleich eine Modenschau in der Bar haben und mein Vater und ich danach um Mitternacht noch nach Tromsö ins Konzert müssen.
Optimistische Mitreisende sprechen von bekannten Modells, die gleich den Catwalk in der Bar betreten werden. Pessimistische glauben, dass die Kellnerinnen nach dem Abendessen genügend Zeit hatten, sich umzuziehen. Die reizende Barkeeperin ist auf jeden Fall nicht gebucht, wie sie mir gerade erzählte.
Liebe Grüße vom stolzen Mitglied der Royal and Ancient Polar Bear Society (Trägerin der silbernen Eisbärennadel)